Rothirsch mit Halsbandsender
Projektdauer: Juni 2006 - Dez 2010
Projektbetreuung: Dipl.-Biol. Reinhild Gräber
Förderung: Jagdabgabemittel des Landes Niedersachsen, Eigenmittel

Projektbeschreibung

Die Lüneburger Heide ist die bislang noch größte, wenig zerschnittene Landschaft im Nordwestdeutschen Tiefland und bietet aufgrund der landschaftlichen Charakteristika einen geeigneten Lebensraum für eine der größten zusammenhängenden Rotwildpopulationen in der Bundesrepublik. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Verhalten und zur Ökologie aus diesem Großraum liegen bisher nicht vor.

Die Telemetrie bildet den Grundstein dieser Studie. Die technischen Möglichkeiten der Telemetrie haben sich in den letzten Jahrzehnten erheblich erweitert. Die Anzahl der Ortungen pro Tag kann je nach Fragestellung variiert werden. Das besenderte Rotwild ist mit einem schwarzen oder gelben Halsbandsender mit gelber Marke (5 x 5 cm) markiert und zusätzlich mit Ohrmarken (gelb) an beiden Ohren. Die Jägerschaft und die ansässigen Jäger sind über die Kennzeichnung informiert und gebeten worden, sendermarkierte Tiere nicht zu erlegen und besondere Beobachtungen dem IWFo zu melden.

rothirsch mit Halsbandsender
Rothirsch "Otto"
Hirsche mit Waermebildkamera aufgenommen
Rothirsche im Wärmebild

Für den Naturraum der Lüneburger Heide und seinen Randgebieten sind die Angaben zur Bestandsgröße und Bestandsgliederung des Rotwildes sehr lückenhaft. Darüber hinaus ist wenig über das Raum-Zeitverhalten der Rotwildrudel, wie z.B. über ihre klein- und großräumigen Wanderungen bekannt. Angaben zu überregionalen Ortsbewegungen basieren vornehmlich auf nicht systematischen Einzelbeobachtungen. Verlässliche Daten zu Bestandsgrößen aus dem Rotwildverbreitungsgebiet im östlichen Niedersachsen sind deshalb dringend nötig. Die Zuverlässigkeit des Rotwildmanagements kann durch gute Daten zur Bestandsdichte des Rotwildes verbessert werden (Gill et al. 1997). Mittels Zählfahrten mit der Wärmebildkamera werden Einschätzung zu Bestandgrößen des Rotwildes im Untersuchungsgebiet gemacht. Die Sichtbarkeit im Bestand ist abhängig von der Baumart, Altersklasse der Bäume und Unterwuchsvegetation. Bei solchen Bedingungen kann die Wilddichtebestimmung mittels der Wärmebildkamera und distance samling eine effektive Methode sein (Marini et al. 2009). Distance sampling wird bereits effektiv bei der Bestanderhebung von verschiedenen Arten und Klassen eingesetzt (Kelley 1996, Brown & Boyce 1998, Lynch & Rusydi 1999, Palomares 2001, Ruette et al. 2003, McConkey & Chivers 2004, Barlow 2006) und kommt immer häufiger zu Einsatz bei der direkten und indirekten Erfassung von Ungulaten (Mandujano & Gallina 1995, Marques et al. 2001, Walter & Hone 2003, Smart et al. 2004, Franzetti & Focardi 2006).

In der Literatur finden sich Angaben, dass vereinzelt Hirsche Distanzen von 50 km, in einigen Fällen auch über 100 km zurücklegen (Amon 1959, Szederjei 1971, Wagenknecht 2000). Einzelne Hirsche können durchaus aufgrund ihrer individuellen Geweihmerkmale relativ einfach identifiziert werden. Damit sind in diesen besonderen Fällen auch ihre Wanderrouten nachvollziehbar (vgl. Reimoser et al. (2001). Die maximalen Wanderbewegungen des Rotwildes werden in der Schweiz mit 120 km (Holzgang et al. 2001) angegeben. Für den deutschen Raum sind Wanderungsdistanzen von maximal 70 km bei Hirschen belegt (Petrak 2004). Sämtliche erhobenen Daten sind für bestimmte Landschaftsraumtypen erhoben worden und somit nicht ohne weiteres auf das norddeutsche Flachland zu übertragen.

Historische Überlieferungen verdeutlichen, dass vor der Errichtung der innerdeutschen Grenze stets zahlreiche Rotwildwechsel zwischen dem östlichen Niedersachsen und Sachsen- Anhalt existierten. Insbesondere das Rotwild im Landkreis Gifhorn war durch die Grenzanlagen von den östlich gelegenen Einstandsgebieten wie z.B. der Letzlinger Heide und dem Flechtinger Höhenzug abgeschnitten. Diese ehemaligen Wechsel wurden unmittelbar nach dem Abbau der Grenzanlagen im Jahre 1990 vom Rotwild wieder angenommen. Sie folgten damit ihren traditionell ausgeprägten Wanderrouten.

Dem Rotwild muss die Chance zu großräumigen Wanderungen in Rudelgröße gegeben werden. Dieser notwendige Austausch ist aus biologischen und genetischen Gründen von großer Bedeutung. Dieser Austausch sollte nicht durch Vorgaben in sog. rotwildfreien Gebieten und/oder durch Barrieren (Strassen, Autobahnen, Bebauungen aller Art) behindert werden. Zur Überwindung letzterer müssen Lösungsmöglichkeiten in Form gefahrloser Querungen gefunden werden, die sich an exakten Beobachtungen zum Raum-Nutzungsverhalten des Rotwildes orientieren. Darüber hinaus lassen sich die Konfliktpunkte mit Straßenführungen über die räumlich genauen Informationen des sendermarkierten Rotwildes lokalisieren und damit die Bedeutung von Querungshilfen zur Vermeidung/ Reduzierung von Wildunfällen im Straßenverkehr herausstellen.

Derzeit herrscht in verschiedenen Kreisjägerschaften im östlichen Niedersachsen erhebliche Beunruhigung unter den Jägern hinsichtlich des in konkreter Planung befindlichen Neubaues der Bundesautobahn A 39. Dieser Autobahnneubau reicht von Wolfsburg bis Lüneburg und durchtrennt den bekannten ost-niedersächsischen Rotwildlebensraum.

Die bislang erarbeiteten wildbiologischen Erkenntnisse der Langzeitstudie zur Lage und Größe der Streifgebiete und Wanderbewegungen des Rotwildes im Jahresverlauf geben sowohl den Jagdbehörden als auch den Rotwild-Hegegemeinschaften der Kreisjägerschaften, den niedersächsischen Forstämtern die notwendigen Grundlageninformationen für eine zeitgemäße Rotwildbewirtschaftung.

Der Ansatz dieser Rotwildstudie vernetzt in seiner besonderen Konstellation die Wildbiologie mit der Landschafts- und Raumplanung, sie erlangt dadurch Modellcharakter und dient unter anderem zur Optimierung der Integration tierökologischer Erkenntnisse in die Verkehrs- und Raumplanung. Dies ist vor dem Hintergrund europäischer und internationaler Konventionen zum Schutz autochthoner Biodiversität ein drängendes, aktuelles Forschungsfeld und damit von internationaler Bedeutung.