Aktuelle Zählungen: 1,4 Millionen Wale, Delfine und Schweinswale im europäischen Atlantik

Wo leben welche Walarten? Und wie entwickeln sich die Bestände? Ein internationales Forschungsteam stellte Ergebnisse des bisher umfangreichsten Projekts zu Populationsgrößen und zur Verteilung von Kleinwalen in der Nordsee, Ostsee und angrenzenden Gewässern des europäischen Atlantiks vor.

Gemeiner Delfin. Aufgenommen in der Bucht von Biskaya, vom Forschungsschiff.
Gemeiner Delfin. Aufgenommen in der Bucht von Biskaya, vom Forschungsschiff.
© IEO_CSIC

Forschende acht europäischer Länder erfassten im Sommer 2022 über sechs Wochen aus Kleinflugzeugen und einem Forschungsschiff die Anzahl der Kleinwale in der Nordsee und den angrenzenden europäischen atlantischen Gewässern. Jetzt liegen die Auswertungen der Zählungen vor: Insgesamt 1,4 Millionen Wale, Delfine und Schweinswalen leben in den Gewässern von Südnorwegen bis Portugal. Dr. Anita Gilles, Institut für Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) koordinierte das Projekt mit dem Namen „Small Cetaceans in European Atlantic waters and the North Sea (SCANS-IV)“. Es ist der vierte Durchlauf der SCANS-Reihe, die 1994 begann und Schätzungen zur Populationsgröße und -verteilung von Walen und Delfinen im europäischen Atlantik ermöglicht. Weitere Zählungen erfolgten 2005 und 2016.

Die Ergebnisse
Das Forschungsgebiet war 1,7 Millionen Quadratkilometer groß, reichte von Südnorwegen bis zur Straße von Gibraltar und erstreckt sich bis zu den Gewässern westlich von Schottland sowie in die westliche Ostsee. Über einen Zeitraum von sechs Wochen erfassten acht Teams in Flugzeugen sowie ein Forschungsschiff das Gebiet systematisch entlang festgelegter Linien. Sie suchten entlang dieser sogenannten Transektlinien 75.000 Kilometer ab und erfassten tausende von Walgruppen 17 verschiedener Arten.

Die am häufigsten vorkommenden Arten waren Schweinswale mit 409.000, Gemeine Delfine mit 439.000 und Gestreifte Delfine mit 187.000 geschätzten Tieren. Hinzu kommen 146.000 Gemeine oder Gestreifte Delfine. Die Häufigkeit der anderen Delfinarten schätzen die Forschenden auf 126.000 Große Tümmler, 67.000 Weißschnauzendelfine und 4.000 Weißseitendelfine. Von den sich filtrierend ernährenden Bartenwalen leben errechnete 12.000 Zwergwale und 13.000 Finnwale in den ausgewählten Gewässern. Die Zahl der tieftauchenden Wale, die sich in küstennahen Gewässern hauptsächlich von Tintenfischen ernähren, verteilen sich auf 3.000 Grindwale, 148 Pottwale und 5.000 Schnabelwale verschiedener Arten. „Die Schätzung für die tieftauchenden Wale ist niedriger als in den früheren Erhebungen“, sagt Gilles, „es ist jedoch, insbesondere für diese Artengruppe, eine Mindestschätzung. Sie ist nicht vollständig mit den früheren Ergebnissen vergleichbar, da wichtige Lebensräume in offshore liegenden Gewässern westlich von Schottland für diese Zählung nicht erfasst werden konnten.“

Das Vorkommen des Gemeinen Delfins hat in der südlich von Irland gelegenen Keltischen See sowie im Südwesten des Vereinigten Königreichs und im westlichen Teil des Ärmelkanals zugenommen. Das deutet darauf hin, dass die Population sich nach Norden ausdehnt. Auch die früheren SCANS-Erhebungen hatten diese Tendenz bereits gezeigt.

Eine Ausdehnung nach Süden zeigt sich für Schweinswale – die am häufigsten im europäischen Atlantik vorkommende Kleinwalart. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich die bereits 1994 in der Nordsee beobachtete Verlagerung der Schweinswalpopulation von Nordwesten nach Süden in den Jahren 2005 und 2016 auch 2022 fortsetzte, wobei sich die Verbreitung im Ärmelkanal sogar noch weiter ausdehnte. Die höchsten Dichten beobachteten die Forschenden in der zentralen und südwestlichen Nordsee. In der Nordsee haben sich über die 28 Jahre, die die Forschenden die Zählungen bislang durchführen, die Bestände von Schweinswalen und auch von Weißschnauzendelfinen und Zwergwalen nicht signifikant verändert. Die Schweinswalpopulation in der westlichen Ostsee, der Beltsee und dem südlichen Kattegat geht hingegen zurück. Die Helsinki-Kommission (HELCOM), die regionale Meeresschutzkonvention für die Ostsee, bewertete diese Population vor kurzem als „in einem nicht guten Zustand, da die Beifänge in der Fischerei nicht nachhaltig sind, was die Notwendigkeit von Erhaltungsmaßnahmen und einer weiteren Untersuchung der Belastungen für diese Population unterstreicht.“

Gilles stellte die Ergebnisse auf der Sitzung des beratenden ASCOBANS-Ausschusses (Agreement on the Conservation of Small Cetaceans in the Baltic, North East Atlantic, Irish and North Seas) vor. Sie sagte: „Die Ergebnisse der vergangenen drei Jahrzehnte haben unser Wissen zur Verteilung und Häufigkeit der unterschiedlichen Walarten in den europäischen Atlantikgewässern erheblich erweitert. Sie ermöglichen es uns, den Erhaltungszustand der Populationen zu bewerten und in Zusammenhang mit menschengemachten Stressfaktoren zu setzen. Diese groß angelegte Zeitreihe soll in den kommenden Jahrzehnten fortgesetzt werden."

Zählung von Walen per Flugzeug und vom Schiff
Die Forschenden setzen für die Zählungen speziell für Meeresbeobachtungen geeignete Leichtflugzeuges ein, die lediglich in einer Höhe von 183 Metern und einer Geschwindigkeit von 185 Kilometern pro Stunde fliegen. In jedem Flugzeug befindet sich ein Team von drei Forschenden: Die beiden sogenannten Observer erledigen die eigentliche Beobachtungsaufgabe. Dafür sind die Flugzeuge mit runden, konvexen ‚Bubble‘-Fenstern ausgestattet, die den Observern einen ungehinderten Blick auf das Meer unter dem Flugzeug ermöglichen. Die dritte Person erfasst alle von den Beobachtenden übermittelten Daten mit einer Datenerfassungssoftware. Für das Gebiet im Golf von Biskaya setzten die Forschenden ein Forschungsschiff ein, da es für die Flüge zu weit vom Festland entfernt liegt.

Die SCANS-Reihe
Die Erhebung war eine Zusammenarbeit von Forschenden aus den acht Atlantik-Anrainerstaaten: Dänemark, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Spanien, Schweden, Portugal und dem Vereinigten Königreich.

Die Daten der SCANS-Reihe sind eine wichtige Grundlage, um die Auswirkungen von Beifang und anderen zunehmenden anthropogenen Belastungen wie Offshore-Industrie, Schifffahrt und Fischerei auf Walpopulationen zu bewerten. Zudem erleichtert es SCANS, die Forderungen der EU-Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie zur Bewertung des guten Umweltzustands, regionaler Meeresübereinkommen wie OSPAR und HELCOM zu erfüllen. Sie schreiben vor, die Kleinwalbestände in den Meeren regelmäßig zu erfassen und über den Erhaltungszustand der Arten und entsprechende Maßnahmen zu berichten.

Weitere Infos
www.tiho-hannover.de/itaw/scans-iv-survey

Kooperationspartner und -institute
Projektkoordination: Dr. Anita Gilles, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover
Philipp Hammond University of St Andrews, Großbritannien
Nikki Taylor, Joint Nature Conservation Committee, Großbritannien
Steve Geelhoed, Wageningen Marine Research, Niederlande
Signe Sveegaard, Aarhus University, Dänemark
Julia Carlström, Swedish Museum of Natural History, Schweden
Matthieu Authier, La Rochelle University, Frankreich
Camilo Saveedra, Spanish Institute of Oceanography, Spanish National Research Council (IEO-CSIC), Spanien
Hélder Araújo, University of Aveiro, ECOMARE & CESAM and Instituto da Conservação da Natureza e das Florestas, Portugal

Kontakt
Dr. Anita Gilles
Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover
Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung
Tel.: +49 511 856-8177
anita.gilles@tiho-hannover.de